Seit den Anfängen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Nachhaltiger Entwicklung (NE) wurde kritisch mitreflektiert, wie Eigenlogiken des Wissenschaftssystems auf Forschung, Lehre und Transfer für NE wirken. Schon früh zeigte sich, dass Nachhaltigkeitsthemen im Nebeneinander der Disziplinen kaum adäquat zu bearbeiten sind, sondern das gesamte Spektrum wissenschaftlicher Weltaneignung fordert (z.B. Heinrichs/Michelsen 2014).
Man kann Nachhaltigkeitsprobleme sogar als Folgen einer Wissenschaft interpretieren, die viel zu wenig über den eigenen Tellerrand geblickt hat und deswegen blind war für mögliche Nebenfolgen aus der Anwendung ihrer Erkenntnisse. Kein Wunder also, dass zum „Klimawandel im Wissenschaftssystem“ aufgerufen wurde (Schneidewind/Singer-Brodowsky 2014), und dabei nicht nur eine Stärkung interdisziplinärer Kooperation eingefordert wird, sondern auch die Integration von Praxiswissen in die Forschung für Nachhaltige Entwicklung (Transdisziplinarität).
WIE WERDEN GESELLSCHAFTLICHE ANLIEGEN ZU FORSCHUNGSTHEMEN?
Transdisziplinäre Forschung mit Unternehmen gibt es schon lange, für NE war bisher dabei aber nur etwas zu gewinnen, wenn es im Interesse der Drittmittelgeber lag. Engagiertere Anwaltschaft für NE darf bei einschlägigen zivilgesellschaftlichen Organisationen vermutet werden (z.B. die Studien „Zukunftsfähiges Deutschland“ 1996 und 2008 im Auftrag von BUND und Misereor, das BUND-Wissenschaftspapier von 2012). Der Appell, zivilgesellschaftliche Anliegen stärker als bisher ins Wissenschaftssystem zu integrieren, stößt allerdings auch auf überraschend lebhafte Kritik , vorgetragen etwa von führenden DFG-Vertretern (Strohschneider 2014, Rohe 2015), die um die Wissenschaftsfreiheit fürchten.
Vorangetrieben wird die bessere Einbindung zivilgesellschaftlicher Anliegen in die Wissenschaft von der „Plattform Forschungswende“, einem bundesweiten Netzwerk von Verbänden, Einrichtungen und Organisationen für NE.
Im Januar lud das Netzwerk zum NABU nach Stuttgart, um einen Tag lang die Potentiale der Forschungspolitik für zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGO) auszuloten, hatte sich doch Baden-Württemberg in der eben ablaufenden Legislatur wissenschaftspolitisch mit der Förderung transdisziplinärer Wissenschaft für NE exponiert, u.a. durch 15 Millionen Euro für 14 RealLabore und eine hochkarätige, internationale Begleitforschung.
Wissenschaftsministerin Bauer begründete in ihrem Auftakt diese Investitionen mit der Notwendigkeit einer „Klimawende in der Gesellschaft“, denn nur mit Engagement und Wissen bottom up, und die darauf antwortenden Änderungen im Wissenschaftssystem sei die Transformation zu bewältigen. Ihren Rekurs auf die schon einmal so erfolgreiche Liaison von Ökobewegung und Wissenschaft quittierten TagungsteilnehmerInnen mit Nicken – vor allem Vertreter von BUND, Landesnaturschutzverband und NABU im Raum konnten sich gut an diesen Aufbruch erinnern. Ministerin Bauer verwies für eine erfolgreiche Neuauflage auf die Anregungen der vom Land 2011 eingesetzten Expertenkommission (Beispiele transformativer Wissenschaft sichtbar machen, miteinander verbinden und weiterentwickeln) und die von ihr daraufhin angestoßene Förderung der Wissenschaft für NE, und hier besonders die RealLabore. Diese Prototypen für transdisziplinäre Wissenschaft seien ein Wagnis (auch für die unmittelbar Beteiligten) mit der Gefahr des Scheiterns, böten aber die Chance zu lernen, wie Transdisziplinarität funktioniert und wie nicht.
GEGENSPIELER UND HINDERNISSE
Steffi Ober, Leiterin des Projekts Forschungswende (VDW 2015), würdigte die respektable landespolitische Bilanz, sah den Ball aber trotzdem nicht allein im Feld von Wissenschaft und Zivilgesellschaft liegen. In Ihrem Aufriss wurde deutlich, wer die forschungspolitischen Traktanden setzt (z.B. die mächtigen Verbände BDI und VDA). Unternehmen gäben in Deutschland mehr als doppelt so viel Geld für F&E aus, als der Staat (davon wiederum fast die Hälfte für den Fahrzeugbau), nichtstaatliche Organisationen ohne Gewinnabsicht trügen hingegen rund 4 Promille zum inländischen F&E-Budget bei.
Die Verteilung der Forschungsförderung des Bundes spiegele diese Verhältnisse, trotz aller politischen Bekenntnisse zur Relevanz von NE und gesellschaftlicher Transformation: 27 Milliarden Euro für die Hightech-Strategie (2010-13), 2 Milliarden für FONA (Forschung für Nachhaltige Entwicklung, 2013-15), 30 Millionen für transdisziplinäre Sozialökologische Forschung (2010-13, also gerade 1 Promille gegenüber der Hightech-Strategie im gleichen Zeitraum). Auch in Agenda setzenden Boards von Forschungsprogrammen seien die Unternehmen weit überproportional vertreten. Die Hightech-Strategie schrieb sich in der aktuellen Periode zwar „Partizipation und Transparenz“ auf die Fahne, besetzte im 20-köpfigen Lenkungskreis (6 Sitze für Wissenschaft, 6 Sitze für Wirtschaft, 6 Sitze für „gesellschaftliche Gruppen“ im Hightech-Forum) aber „gesellschaftliche“ Plätze mit der Volkswagenstiftung und einem Vertreter der „fünf Weisen“ (Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung). Einen weiteren Platz hält die Vorsitzende des Nachhaltigkeitsrats (ebenfalls ein Beratungsgremium der Bundesregierung). Dabei gäbe es mit VENRO oder dem DNR (beide zusammen über 200 Verbände, 2,4 Millionen Mitglieder) engagierte, kompetente Vertretung bürgerschaftlicher Anliegen für ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit.
WIE ZIVILGESELLSCHAFT TROTZDEM MITBESTIMMEN KANN: PRAKTISCHE WEGE
Drei Ansätze fasste Steffi Ober dann für mehr gesellschaftliche Partizipation am Wissenschaftssystem zusammen:
- ZGOen positionieren sich zu Wissenschaft, Forschung, Innovation;
- ZGOen beteiligen sich an Agendasetting, Programmentwicklung, Projektdurchführung;
- Räume/Plattformen/Prozesse schaffen für deliberative Interaktionen von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft.
Für die ersten beiden brauchten ZGOen Anstöße, Herausforderung und Förderung. Letztes müssten die angesprochenen Akteure gemeinsam bewerkstelligen, zum Beispiel indem Vertreter von ZGOen in allen Entscheidungsebenen des Wissenschaftssystems partizipieren, vom wissenschaftspolitischen Diskurs über Agendasetting und Programmentwicklung bis zu Hochschulräten und Projektsteuerung. Abschließend verwies Steffi Ober auf operative Möglichkeiten der bürgerschaftlichen Partizipation an Wissenschaft, wie Technikfolgenabschätzung, Nutzer- und Arbeitnehmerbeteiligung oder Community-based Research. Sie schlug mit den Wissenschaftsläden (die z.T. ja noch aktiv sind) einen Bogen zur Vorrednerin (Ökobewegung und Wissenschaft) – und mit dem Verweis auf RealLabore die Überleitung zum folgenden Referat.
Oliver Parodi (ITAS) berichtete aus zwei Karlsruher RealLaboren, wie Nachhaltigkeitstransformation in Stadtquartieren angegangen werden kann (Parodi et al 2016). „Quartier Zukunft“ und „R131“ sind – das eine eher „breit“, das andere eher „vertiefend“ – in der Karlsruher Oststadt angetreten, um die ganze Palette von relevanten Nachhaltigkeitsthemen anzusprechen: Wohnen, Wirtschaften, Werte, Klima und Energie, Mobilität, Gerechtigkeit, Gesundheit… Dabei hilft dem ITAS das integrative Verständnis Nachhaltiger Entwicklung der HGF (Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, Kopfmüller et al 2001), das sich inspirierend von der immer noch vielfach zelebrierten „Säulen-Dreifaltigkeit“ der 90er Jahre abhebt. Gruppen und Menschen der Oststadt aus einem Spektrum von Kirchengemeinden über die „üblichen Verdächtigen“ wie Slow Food und ADFC bis zu Ökodörflern werden über die Stufen Information-Konsultation-Kooperation-Kollaboration-Empowerment zu selbstwirksamen Gestaltern nachhaltiger Entwicklung ihres Stadtteils. Neben erwartbaren Formaten (Bürgerforen, Stammtische, Aktionstage…) sticht der „Zukunftsraum“ heraus, in den RealLabor-Wissenschaftler ihren Arbeitsplatz verlagern, aus der sicheren Campus-Welt mitten ins Quartier, um auf diese Weise konkret sichtbare, ansprechbare Projektpartner zu sein. Bürger nutzen den Zukunftsraum für ihre Nachhaltigkeitsexperimente, wie zum Beispiel Repair-Cafes. Oliver Parodi verwies abschließend auch auf Schieflagen im Arrangement – wie etwa ehrenamtliche Bürger vs. hauptberufliche Wissenschaftler (also nicht immer auf „gleicher Augenhöhe“ und inkompatible Arbeitsrhythmen), ungleiche Geldflüsse, institutionelle Grenzen – und der Status als junges, oft unbequemes und zuweilen sogar ungewolltes Kind im Wissenschaftsbetrieb.
WIE IMMER: DISKURS UMS LIEBE GELD
Den Vormittag rundete eine Paneldiskussion ab, besetzt mit Ministerin Bauer und den bisherigen Vortragenden sowie Rudi Kurz (Wissenschaftskommission des BUND) und Andre Baumann (Landesvorsitzender des gastgebenden NABU). Die Ministerin erläuterte weitere Aspekte ihrer Politik für Nachhaltigkeitswissenschaft und mehr Partizipation, u.a. die Öffnung der Hochschulräte für zivilgesellschaftliche Vertretung (was im Land leider noch gar nicht in Anspruch genommen wird). Rudi Kurz berichtete von den praktischen Mühen der Ehrenamtlichen in forschungspolitischen Gremien, die mit den gutbezahlten Profis der Wirtschaft schon beim Zeitaufwand kaum mithalten könnten. Bei der Forderung nach Mitteln für Wissenschaftsreferenten in den ZGOen traf er sich mit Andre Baumann, und löste bei Hochschulvertretern im Publikum ein Echo aus: auch dort fehle es an bezahlten Profis für die aufwändigere Organisation transdisziplinärer Projekte. Ministerin Bauer wollte statt verlässlicher Finanzierung aber lieber Orden zur Förderung der Transdisziplinarität zusagen („Pioniere auszeichnen“), wiewohl Steffi Ober auf den empirisch belegten Erfolgsfaktor „professionelles Projektmanagement“ verwies (90% der gescheiterten Projekte erlitten Schiffbruch an fehlendem bzw. unzureichendem Management). Das beißt die Maus wohl keinen Faden ab – Transdisziplinarität ist nicht zum Nulltarif machbar, die bislang budgetierten Bordmittel in Hochschulen und Verbänden geben das nicht her.
Der Nachmittag begann mit einer Workshops zu Treibern, Akteuren, Formaten und Hürden der Forschungswende. Die TeilnehmerInnen aus Verbänden, Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen nutzen diese Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch, für Problemdefinitionen und zur Formulierung von Desideraten, beispielsweise bei der Ausschreibung von Mitteln für transdisziplinäre Projekte (u.a. RealLabore). Felix Wagner (Ministeriumsreferent für NE) holte sich einschlägige Anregungen ab, etwa auf Wettbewerbe zu verzichten, die Engagierte frustrieren, weil zu viele trotz aufwändig erarbeiteter, sehr guter Konzepte leer ausgingen und es auch keine Rückmeldung über Entscheidungsgründe gäbe. Alternativ dazu wäre z.B. jeder Hochschule eine – ggf. gestaffelte – Summe in Aussicht zu stellen, die sie mit einem guten Konzept dann auch zugesprochen bekäme.
VISIONEN FÜR DIE FORSCHUNGSWENDE
Ergiebig war die Abschlussrunde im Plenum. Neben einer Vermisstenmeldung (wo bleibt das im grünroten Koalitionsvertrag anvisierte „Kompetenzzentrum Bildung für NE“?) und der Benennung von Diskrepanzen (das Märchen der „Augenhöhe“ von Forschungspolitik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft; Technologielastigkeit des Wissenschaftssystems; unterschiedliche Sprachen und Diskurse; Vernachlässigung des Themas in den ZGOen) gab es konstruktive Visionen: die Anregung eines Programms zur Erforschung alternativer, nachhaltiger Wirtschafts- und Lebensformen; der Vorschlag eines openlabs bei Steinbeis zum Anstoß transdisziplinärer Vorhaben und Crowdfunding; die Idee eines Transformationsladens in Stuttgart, anknüpfend an die Wissenschaftsläden und den Karlsruher Zukunftsraum, betrieben u.a. von den RealLaboren der Stuttgarter Hochschulen.
Fazit der Tagung: bis gesellschaftliche Anliegen in der Wissenschaft ebenso repräsentiert sind, wie wirtschaftliche, ist noch ein weiter Weg zu gehen. Hochschulen und Zivilgesellschaft müssen das Miteinander noch lernen – u.a. in RealLaboren zeigt sich, wie das gehen könnte, und was dafür noch zu tun ist.
(Tagungsbericht von Dr. Michael Kalff, Zentrum für Nachhaltige Entwicklung an der HFT Stuttgart)
Literatur
BUND (Hg.), 2012: Nachhaltige Wissenschaft: Plädoyer für eine Wissenschaft für und mit der Gesellschaft. Berlin.
Heinrichs, Harald; Michelsen, Gerd (Hg.), 2014: Nachhaltigkeitswissenschaften. Heidelberg.
Kopfmüller et al: 2001: Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet: Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin.
Kurz/Luthardt/Schnitzer, 2014: Wissenschaftspolitik für Nachhaltige Entwicklung. Thesen der Wissenschaftskommission des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND e. V.). In: umf UmweltWirtschaftsForum, 4/2012, S. 233-236.
Parodi/Albiez/Meyer-Soylu/Waitz, 2016: Das „Quartier Zukunft – Labor Stadt: ein reales Reallabor“. (angenommen) In: Resilienz | Stadt und Region – Reallabore der resilienzorientierten Transformation. Frankfurt
Rohe, Wolfgang, 2015: Vom Nutzen der Wissenschaft für die Gesellschaft: Eine Kritik zum Anspruch der transformativen Wissenschaft. In Gaia 03/2015, S.156 – 159.
Schneidewind, Uwe; Singer-Brodowski, Mandy (Hg.), 2014: Transformative Wissenschaft: Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Weimar
Strohschneider, Peter, 2014: Zur Politik der Transformativen Wissenschaft. In: Brodozc et al (Hg.): Die Verfassung des Politischen: Festschrift für Hans Vorländer, S.175-192.
VDW (Hg); Ober, Steffi; Paulick-Thiel, Caroline, 2015: Zivilgesellschaft beteiligen: Perspektiven einer integrativen Forschungs- und Innovationspolitik. Berlin
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